Fachbereich 3
Dies ist die gekürzte Fassung eines Vortrags auf dem Medienforum in Kölnim Juni 1996, der ausgearbeitet erschienen ist in: Helmut Schanze, Peter Ludes (Hg.): Qualitative Perspektiven des Medienwandels, Opladen (Westdeutscher Verlag) 1997, S. 172-182. Die hier veröffentlichte Fassung entspricht nicht der Druckfassung, zum Zitieren gilt die gedruckte Fassung.
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Peter Gendolla

Über Simulationsmodelle

In der Debatte um die Möglichkeiten der neueren rechnergestützten Technologien, eine Welt ohne Vorbild zu erzeugen, hat sich spätestens mit Baudrillards "Echange symbolique et la mort" von 1976 der Simulationsbegriff als eine Art Leitkategorie etabliert. Von der klassischen Tätigkeit des Simulanten zum aktuellen Versuch der numerischen Modellierung von Klimaänderungen, Populationsverhalten oder neuronaler Bildgenerierung überspannt der Begriff dabei ein von Fach zu Fach, Anwendung zu Anwendung, Situation zu Situation kaum mehr überschaubares Feld. Einen gewissen Bedeutungskern und eine bestimmte historische Transformation dieses Kerns, auch eine mögliche Grenze des Simulationsbegriffs versucht der folgende Beitrag zu skizzieren.

I. Drahtmodelle

1973 drehte R.W.Faßbinder für den WDR eine sogenannte Zukunftsvision, den mehrteiligen Fernsehfilm Welt am Draht. Um Erkenntnisse über mögliche Reaktionen des Wahlvolks auf natürliche oder soziale Katastrophen wie irreparable Umweltzerstörung, Übervölkerung, Nahrungsmangel etc. zu gewinnen, beauftragt die Regierung ein wissenschaftliches Institut. Dieses hat ein Computerprogramm entwickelt, mit dem simulierte Subjekte, sogenannte IDEs (Identitätseinheiten) in simulierte Umwelten gesetzt werden können. Deren Parameter werden verstellt, diverse Varianten für Ökonomie, Regierungsform, Klima etc. aufgeschaltet, und die IDEs reagieren, diskutieren, handeln... K.Löwith - z.Zt. als Peter Strohm postmoderner Privatdetektiv im Ersten - spielt einen der im Projekt beschäftigten Wissenschaftler namens Stiller. Über eine Art Operationstisch mit Interfaces zur simulierten Welt - die Intensivstation der Datenströme, die heute Virtual Reality heißt - kann er sich in die künftige Gesellschaft begeben, als trojanische IDE sozusagen. Er trifft sich dort mit einer Kontaktperson, die von der anderen, realen Ebene des Wissenschaftlers weiß, über Unregelmäßigkeiten, Verschwörungen und sonstiges unter den simulierten Subjekten informieren soll. Diesmal ist es anders, die Kontaktperson mit dem etwas höheren Bewußtsein und der niederen Existenz möchte diese verlassen und in die wirkliche Welt gelangen. Sie droht das Projekt zu zerstören, d.h. die anderen IDEs aufzuklären, den Schwindel öffentlich zu machen. Stiller verspricht Erlösung, zurück in seiner Welt läßt er die Kontaktperson löschen, del IDExy.

Es kommt zu seltsamen Ausfällen in Stillers eigener Umgebung. Er fährt mit dem Wagen auf einer Straße, die plötzlich endet, ins wörtliche Nichts führt. Von heut auf morgen kommt ein Kollege nicht mehr ins Institut, ist weder zu Hause noch sonst irgendwo zu finden. Vor allem vermag sich außer Stiller niemand an ihn zu erinnern, kein Telefonbuch verzeichnet seinen Namen, nicht die winzigste Spur ist den entsprechenden Dateien zu entnehmen. Bevor nun Stiller an sich selbst zu zweifeln beginnt, hat er und mit ihm der Zuschauer den rettenden Verdacht: Wie, wenn auch seine Umwelt nur simuliert wäre, er selbst eine programmierte IDE, die Kontaktperson einer höheren Ebene... Tatsächlich trifft er auf eine Frau, die sich als Botin der anderen Welt herausstellt, und mit ihrer Hilfe gelingt ihm der Übertritt aus der Welt der puren bits in die des Fleisches, sodaß sie sich schließlich glücklich in die Arme fallen können.

Wie die simulierten Subjekte aus der software in die wetware wechseln, hatte auch Faßbinders Film einer ursprünglich literarischen Idee Fleisch und Blut verliehen. D.h. die bloßen Worte des Romans Simulacron-3 von D.F.Galouye(1) in bewegte und sprechende Bilder transportiert. Der Medienwechsel hatte jene Idee nicht unbedingt bereichert. Aus literarischer Perspektive hatte solche Zunahme des Fleisches den Geist sogar eher vermindert. Wo der Film das Spiel der Zeichen und Materien einfach begrenzt, indem er sie nach einer irritierenden Trennung mit der Liebesgeschichte wieder eindeutig verbindet, schließt der Roman mit einem sehr viel weiter reichenden Verdacht. Was, wenn auch die jetzt erreichte Ebene nicht die letzte Realität bildete, wenn auch sie nur eine Simulation einer höheren Welt darstellte, und dann diese wiederum nur die Kulissenschieberei einer noch mächtigeren Regierung, und so fort ins Unendliche? Einen gewissen Abschluß findet dieser Regress bei Galouye dann in keinerlei materiellen Realität, vielmehr in jener Instanz, mit der die Gattung ihre metaphysischen Irritationen immer schon beendet und abgesichert hatte, im unendlichen Bewußtsein Gottes. Das System der russischen Puppe, logisch in beide Richtungen unabschließbar - und übrigens gegenwärtig mit den sogenannten Fraktalen auf überraschende Weise neubelebt - wird mit einem Namen, dem Namen verschlossen, ein im Prinzip dynamischer Prozeß mit einer Art Superzeichen angehalten.

Der Roman verknüpft sich so mit einer reichen literarischen Tradition, die nicht erst mit den "Spiel-im-Spiel"- oder "Buch-im-Buch"-Verschachtelungen Shakespeares oder Cervantes' begonnen hatte, sich in der romantischen Literatur in vielfachen Narrationen ausdifferenzierte. Eine lustige Variante bildet etwa Tiecks Der gestiefelte Kater, eine radikale, zutiefst trostlose Version Jean Pauls Rede des toten Christus vom Kreuze herab, daß kein Gott sei. Die diversen Formen solcher ästhetischer Autoreferenzialität sollen hier nicht weiter ausgeführt werden, auch auf die damit verbundene Debatte zum unendlichen Bewußtseinsregress in der idealistischen Philosophie von Fichte über Schelling zu Hegel kann nur hingewiesen werden.(2) Ein erstes diese Literatur bis Galouye dirigierendes Simulationsmodell läßt sich damit aber zumindest fixieren: Materien, Körper, ihre Schmerzen und Lüste sind hier von Anfang an nur Vorstellungen eines Bewußtseins. Es kann sich - selbst nur ein Spiel oder Prozeß reflexiver Zeichenketten - etwas anderes eben auch nur als Zeichenspiel imaginieren, Zeichen höherer oder niederer Verdichtung, gewiß, lichte Gottesgedanken oder schwarze Teufelsbilder, aber es bleiben immer nur Zeichen. Alles Fleisch ist hier die Erinnerung einer Idee, nicht mehr und nicht weniger. Noch in J.Baudrillards melancholischer Rede über die postindustrielle Gegenwart ist dies Modell wirksam.(3) Er sieht - ganz mit dem Blick der romantischen Literatur - eine unaufhaltsame, durch die elektronischen Medien endgültig werdende Entkoppelung von Zeichen und Referenzen, die Agonie des Realen.(4) Mit nur zufälliger oder ganz ohne Bindung an die materielle Welt seien die Zeichen in eine irre Zirkulation getrieben, würden beliebige Signifikanten beliebige Signifikate illuminieren, ein einmal vom internationalen Kapital entfesselter, nun von keiner software-Company mehr zu stoppender Taumel. Simulation heißt hier: Generierung von Zeichen aus Zeichen, die sich als Materien mißverstehen, Atem und Form eines Lehms, der ohne sie angeblich zu Staub zerbröselt. Im dreigliedrigen Modell steht die Idee, die Bedeutung, das Signifikat an der Spitze und stellt sich Zeichen vor, simuliert Signifikanten, die Materien vorstellen, theatrum mundi.

II. Kombinationskunst

Mit- dem Wechsel der literarischen Ideen in die audiovisuellen und elektronischen Medien des Films und Fernsehens wird auch das Modell transformiert, ändert sich der Charakter des Simulierten. Steht im metaphysischen Zeichensystem das Signifikat an der Spitze der drei Terme und definiert von da Signifikanten und Referenzen, so kippt dieses Dreieck in den neuen Medien zur Seite. Der Sinn dirigiert nicht mehr sondern wird dirigiert vom Spiel der Bilder und Worte, die gleichberechtigt agieren, zerlegt und zusammengesetzt nach keiner fundamentalen Grammatik und Syntax, eher nach der Qualität einzelnder Formen und Farben, Töne, Klänge, der elementaren Materialität der Zeichen und ihrer Assoziationsmöglichkeiten. Zum Sinn wie zum Referenten unterhält dies Zeichenspiel nur lose Beziehungen, nur durch Glauben oder Gesetze festzuzurren, nur durch Androhung oder Exekution von Gewalt, immer vom Zerfall bedroht. Erstmals manifest - u.a. in vielen Manifesten - ist dies Modell einmal in der emphatischen Zelebrierung von Krieg, Gewalt, Geschwindigkeit im italienischen Futurismus geworden, ein andermal in den antisozialen, antimilitaristischen und antiklerikalen Rüpelspielen des deutschfranzösischen Dadaismus. Seitdem hat sich diese europäische Avantgarde global und universell ausgebreitet, nicht allein in den Kunst- und Antikunstbewegungen des 20.Jahrhunderts, im Surrealismus, Tachismus, Fluxus, concept art, Happening, Performances... Diese bilden allemal nur Vorspiel wie Reflex der viel weiter reichenden Entkoppelung tradierter - religiöser, nationaler, ethnischer etc. - Zeichensysteme, wie sie am radikalsten in den beiden Weltkriegen stattgefunden hat, in unzähligen kleinen und größeren Kriegen weiter stattfindet. Was ist Gewalt anderes als das willkürliche Zerreißen der Homöostase von Zeichen und Materien, Bewußtsein und Fleisch, mit dem Schmerz als Signal dieser Trennung? Die neuen Medien haben in solchen wargames eine durchaus zentrale Funktion. Sie stellen die genannte Entkoppelung nicht bloß vor oder dar, sie bilden eines ihrer Instrumente. Medien sind Zerlegungs- und Zusammensetzungsapparate, Maschinen einer neuartigen ars combinatoria, aus dem theatrum mundi wird das theatrum machinarum. Wie die Medien des deutschen Nationalsozialismus etwa unter dem Titel der Vereinigung - "ein Volk, ein Reich, ein Führer" - ununterbrochen nichts anderes taten, als gewachsene Identitäten zu zerlegen, religiöse, familien- oder gruppenspezifische, regionale, auch und vor allem ethnische und nationale, ist in der inzwischen unendlichen Bibliothek zum Faschismus nachzulesen. Der Krieg war dabei die Fortsetzung dieser Medien mit anderen Mitteln, der Versuch, den einmal begonnenen Trennungsprozeß gewaltsam zu stoppen, eine neue, in Ideen, Plänen, Programmen, Weltkarten simulierte Einheit herzustellen. Daß die Realisierung, die Heilung dieser Simulation als "großdeutsches Reich" - oder anderer "Reiche", italienischer, spanischer, russischer...- nicht gelungen ist, heißt nicht, daß das zweite, das Simulationsmodell der audiovisuellen, weitreichend bereits elektronischen Medien nicht effektiv gewesen wäre. Es hat im Gegenteil nur zu gut funktioniert. Wie die Zeichen und ihre Materien auf den Bildern, in den Texten, den Aktionen und "Werken" der Avantgarde willkürlich zerlegt und rekombiniert wurden, sind ja gerade die Individuen, Gruppen, Nationen, ihre Sprachen, Vorstellungen, Kulturen, d.h. die Einzel- und die Kollektivkörper, ihre Orte mit ihren Zeichen auseinandergerissen und neu zusammengesetzt worden. Das Resultat bildet ein - keineswegs beruhigtes - patchwork im Weltmaßstab.

Immer vorausgesetzt, daß es sich bei Simulationsmodellen um dynamische Wahrnehmungsmodelle handelt, die einen Überschuß, eine Ungereimtheit, etwas Differentes, nicht-Fertiges konstruktiv umzusetzen suchen, wobei der Schmerz oder die Lust als energetisches Potential der Umsetzung wirksam sind, funktioniert das zweite der skizzierten Modelle als eine Seh- und Hörmaschine, die die Eigen- und die Fremdwahrnehmung nicht mehr auseinanderhält. Wurden Ich und Welt, Subjekt/Objekt, das Selbst und das Fremde im ersten Modell noch streng entfernt gehalten, indem eine klare Hierarchie alle Materie, jeden Körper als bloße Referenten eines Zeichens situierte, das wiederum eine Idee repräsentierte, Außen und Innen auf einer Linie saßen, auf der auch jedes Ich seinen Platz finden konnte, so wird mit den neuen Medien diese Ordnung unhaltbar. Im krassen Gegensatz zur naiven Annahme, sie erlaubten die immer perfektere Wahrnehmung der Außenwelt, ermöglichen sie vielmehr die vollkommenere Wahrnehmung der Innenwelt, genauer: die Reflexion des Innen im Außen, die Spiegelung, Brechung, Übertragung etc. des Selbst im Anderen, das Sichselbsterkennen oder -wiedererkennen in etwas, das es so vorher gar nicht gab. Waren der Mond oder einzelne Blutkörperchen über Jahrtausende unerreichbare und damit auch unveränderbare Materien, so werden sie mit den Kameraaufnahmen der Nasa oder der Anwendung des Elektronenmikroskops zu Bildern, die auf einmal der Selbstwahrnehmung angemessen, verkleinert oder vergrößert auch in diese aufgenommen werden können. Und wie die Astronauten dem Mond ein paar Steine entnehmen oder die Mediziner dem Körper etwas Blut, d.h. ihr Objekt verändern, ändern in der anderen Richtung die neuen Bilder auch den aufnehmenden Körper, seine Selbstwahrnehmung. Das System, nach dem sich die Zirkulation seiner Stoffe über Erregungen, Signale, Geräusche, Gerüche, Klänge, Bilder, Zeichen...in der Umwelt erhält, wird verändert, in Bereichen aufgelöst und reorganisiert. Der faschistische Einheitskörper ist ein wahnwitziges, destruktives Phantasma geblieben. Am dadaistischen, beweglichen, seine Elemente aus- und vertauschenden Modellkörper arbeiten die Medien täglich. Wie einfache Geräusche richtig eingesetzt dabei einen ganzen Staat zum Zusammenbruch führen können, hat die sogenannte Telerevolution Rumäniens vom Dezember 1989 vorgeführt.(5) Während Ceausescu über die von ihm als "Terroristen" bezeichneten Aufständischen herzog, life vom rumänischen Fernsehen übertragen, liefen eine Handvoll Studenten mit Kasettenrekordern zwischen den auf dem Platz des Palastes in Bukarest versammelten Massen auf und ab. Von den Geräten waren nichts als Schüsse zu hören, angeblich aus den Gewehren, mit denen die Arbeiter und Studenten in Temesvar brutal zusammengeschossen worden waren. Ein paar wenige, sozusagen noch handgearbeitete Medien waren gegen das Massenmedium Fernsehen erfolgreich. Militär und Securitate kündigten die Loyalität mit dem Diktator. Am Tag darauf versucht er zu fliehen. Vier Tage später brachte derselbe Kanal die Bilder von seiner Exekution.

III. ars simulatoria

"Die universelle Turing-Maschine imitiert ...alle anderen Medien. Wie einst pferdelose Kutschen und drahtlose Telegraphie haben wir jetzt papierlose Bibliotheken und stationslose Rundfunkmedien. ...Wir müssen also statt der Beschreibung von Oberflächen und Gebrauchsweisen nach allgemeineren Operationen suchen. Eine erste vorläufige Antwort darauf lautet Simulation. Der universale Simulator geht über Prä-Bit-Medien hinaus, indem er Prozesse, Aktoren und Räume simulieren kann - Ideenräume, perspektivische, kartesische Räume, Handlungsräume, Spielräume."(6)

Volker Grassmuck hat drei Etappen der Medienentwicklung unterschieden, die mit den hier vorgeschlagenen Simulationsmodellen parallel gedacht werden können: ars memoria - ars combinatoria - ars simulatoria. Die erste steht für die klassischen mimetischen Verfahren, die von der Literatur angeleiteten Möglichkeiten der Speicherung und Erinnerung, der Bibliotheken, des Aufrufs und Einsatzes von Texten. Die zweite steht für die enthierarchisierte freie Vertausch- und Zusammensetzbarkeit von Bildern und Texten, wie sie die audiovisuellen und elektronischen Medien praktizieren. ars1 und ars2 sind weiter in Betrieb, werden aber zunehmend überwölbt oder untergraben - das mag man je nach Perspektive oder Ideologie formulieren - von einer dritten "Kunst", die sich mit der Digitalisierung der Medien ausbreitet. Waren das erste und das zweite Simulationsmodell an Zeichensysteme gebunden - ans metaphysische das erste, an die Materialität der Zeichen das zweite, beide an Verhältnisse von Präsenz/Repräsentation, Original/Kopie, Wahrheit/Fälschung etc. -, so werden gegenwärtig solche Zeichensysteme iiritiert, zersetzt, reformuliert und neu situiert durch Systeme, die durch einen weiteren Term definiert sind, die Information. Sie ist zunächst nichts als die Nachricht darüber, ob etwas, ein Element beliebiger Qualität in einem vordefinierten Raster da ist oder nicht. In tradierten Zeichensystemen wurde solche Information mitkommuniziert. Daß etwas existiert, war die unabdingbare Voraussetzung aller ernsthaften, wahren Kommunikationen, die anderen fielen unter Schein, Täuschung, Spiel, Theater, Lüge, Verrat... Neuerdings - hier steckt des Pudels Kern, die causa der verstörenden Ängste oder futuristischen Begeisterungen - wird solches etwas zum Resultat der Kommunikationen. Daß und dann wie, in welcher Dichte, Form, Beweglichkeit...Qualität etwas für jemanden existent, wahr-nehmbar und wirksam wird, wird in Informationssystemen definiert, generiert, produziert. Das von Carlo Ginzburg aus der Analyse der empirisch verfahrenden Wissenschaften der Kunst, Psychoanalyse und Kriminalistik des ausgehenden 19.Jahrhunderts extrahierte Indizienparadigma, dem wissenschaftlicher wie Alltagsverstand immer noch weitgehend treuherzig anhängen, ist in eine unaufhaltsame Erosion geraten. Immer noch glauben viele, die nur richtig gelesenen Spuren führten schon zum Täter, zur Tat und ihren Umständen. Das ist ja auch richtig, die Spuren führen zum Mord. D.h. der Leser ist der Täter, die Tat ist das Lesen, der Mord das Ergebnis, das folgerichtige Ende der Spurensuche.

Obwohl wahrscheinlich kein Terminus aktuell eine solche Konjunktur hat wie die Simulation, die rechnergestützten oder -generierten virtuellen Welten zunehmen, täglich neue Systeme in Schulen und Büros, Fabriken und Wohnzimmern installiert werden, ist durchaus nicht sicher, ob hier überhaupt noch von Simulation geredet werden kann. Wenn mit dem Rechner per Datenhelm und -anzug begehbare Architekturen erzeugt werden, so mögen sie noch nach den alten Modellen verstanden werden, als Täuschungen, counterfeit world, oder auch als dünne, durchsichtige Vorstufen der eigentlichen Realisierung in Stein und Glas.(7) Aber wie schon seit Ewigkeiten trügt der Schein auch hier, hat er sogar eine unglaublich erhöhte Chance, sich in Wirklichkeit, besser Wirklichkeiten zu verwandeln. Ein willkürlich aus der Tageszeitung gegriffenes Beispiel mag das verdeutlichen. In einem Bericht über den neuesten von der Bahn in Fulda in Betrieb genommenen Fahrsimulator werden Verfahren und Möglichkeiten der Anlage beschrieben.

"Beim Blick durch die Windschutzscheiben bietet sich ein vertrauter Anblick: Gleise, Weichen, Masten, Fahrdrähte, Ausfahrtsignale; nur die Fliegen auf der Scheibe fehlen. Diese weitgehend echt wirkende Bild liefert ein lichtstarkes einkanaliges Projektionssystem, das auf dem Dach der Kabine montiert ist und sich samt der sphärisch gewölbten Projektionsfläche mit ihr bewegt. Das zu Sehende wird nicht etwa über Video eingespielt, sondern in Echtzeit von einem Computer erzeugt (CGI, Computer Generated Image). Diese Technik hat den großen Vorteil, daß aus einer vorhandenen Datenbank immer wieder neue Strecken zusammengesetzt werden können; Tag oder Nacht, Sonne, Nebel, Regen oder Schneetreiben lassen sich nach Belieben aufschalten."(8) Das Ganze dient Ausbildungszwecken, soll Geld einsparen, vor allem auf Situationen vorbereiten, die wegen gravierender Konsequenzen in der Realität nicht eingeübt werden können, plötzliche Störungen, Ausfälle und Unfälle. Insofern funktioniert alles in den vertrauten Relationen von Wirklichkeit und Schein, die fehlenden Fliegen beweisen ja, daß wir uns nur in Platons Höhle befinden. Lediglich eine kleine, eingestreute Anekdote macht einen, wenn auch noch winzigen Riß in die Projektionen. Ausgerechnet der Chef des Unternehmens erliegt ihren Verführungskünsten.

"Bahn-Chef Heinz Dürr konnte sich, wenn auch nur in der Scheinwelt der Simulation, den Traum erfüllen, den wohl jeder Junge in seiner Kindheit hegt: wenn schon nicht Lokomotivführer werden, dann doch wenigstens einmal Lok fahren. Der Simulator, den Krauss-Maffei auf die Beine gestellt hat - das ist durchaus wörtlich zu nehmen -, täuschte ihn perfekt. Nach kurzer Zeit vergaß er, daß er nicht in einer echten Lok saß."(ebd.)

Noch sind die Sinne, die Rezeptions- und Verarbeitungssysteme des Körpers mit tradierten Medien verbunden, bewegt er sich durch Luft oder Wasser, auch wenn diese zunehmend kontaminiert werden. Noch erinnert sich der Bahn-Chef an die alte Welt und wechselt den Raum. Perfekte Fliegen für die Scheibe allerdings werden bereits präpariert. Zunächst nur für die Kinder, für die Spielwelten von Sega, Sony oder Nintendo. Dort wird aber auch am ehesten greifbar und begreifbar, welche Umsetzungen, Re- und Neupositionierungen sich im Verhältnis unserer Wahrnehmungssysteme zu den rechnergestützten oder -generierten Umwelten gegenwärtig abspielen. Nicht weil die genannten Spielwelten auf einfachen technischen Systemen basierten, das Gegenteil ist der Fall. Vielmehr wird an der Leichtigkeit, mit der die Kinder sich auf diese Welten einstellen oder in sie eingehen nur einfacher deutlich, daß es sich um keine noch perfekteren Betrugsmaschinerien und um noch infamere Angriffe auf unschuldige Kinderseelen handelt, sondern um Adaptionsleistungen der Sinne, ums Erlernen dessen, was als dicht, fest und wirklich und was als flüchtiger Schein wahrgenommen wird. Die beiden Qualitäten werden nicht einfach abgeschafft, eher umgruppiert, auf einer Achse mit vielen Abstufungen angesiedelt, auch Mischungen, Versetzungen, Amalgamierungen. Rolf Großmann formuliert dies konstruktivistisch, nicht radikal sondern hybrid, als Verschmelzung.

"Mit den beschriebenen Technologien erzeugte mediale Artefakte enthalten technisch transformierte 'Realitäten', Repräsentationen physikalischer Vorgänge, in denen Zeit und Raum ...symbolisch transformiert werden, bevor sie auf den in Raum und Zeit der täglichen Lebenswelt handelnden 'Operator' treffen. Direkte, in der 'echten Echtzeit' des kognitiven Systems repräsentierte menschliche Realität verschmilzt ...nicht nur in den phantastischen bunten Welten der Virtual Reality und der Computeranimationen mit den digitalen Konstrukten einer symbolisch transformierten 'fremden' Realität, sondern auch in der auditiven (und audiovisuellen) Wirklichkeit des Medienalltags."(9)

So ist das dritte Modell für die mit den digitalisierten Technologien erzeugten Wirklichkeiten und ihre Wahrnehmung durch ebenso digitalisierte Medienanordnungen mit dem Begriff der Simulation wohl nur dann einigermaßen zureichend erfaßt, wenn man ihn von jedem Nachahmungs-, vor allem aber jedem Fälschungskalkül loslöst, die mit den neuen Technologien begonnene Entwicklung als authentische Fortsetzung der Natur mit anderen Mitteln versteht. Diese allerdings operieren mit ungleich erhöhter Geschwindigkeit.

"In einer einzigen Menschengeneration, die allerdings mindestens vier Computergenerationen entspricht, hat sich ihre Leistung um den Faktor mehrerer Millionen erhöht, während ihre Größe um den Faktor einiger Zehntausend geschrumpft ist. Kein Wunder also, daß weder die Evolutionen des Lebens noch die der Kultur noch mithalten können. Wenn Kultur als Weitergabe nicht vererbbarer Information an folgende Generationen das Unternehmen gewesen ist, der Trägheit biologischer Evolutionen zuvorzukommen, dann ist die Computertechnologie der wahrhaft erste Fall einer Evolution, die genau diesen vordem uneinholbaren Vorsprung der Kultur noch einmal überbietet."(10)

Daß die Entwicklung der Rechnertechnologien weniger mit Modellen der (kontrollierten) kulturellen Differenz, eher mit solchen einer (zufälligen, nur in Graden kontrollierten und kontrollierbaren) natürlichen Evolution vorgestellt werden kann, als Generierung von Maschinen und Programmen durch Maschinen und Programme, an der aktuelle menschliche Intelligenz auch beteiligt ist, macht Kittler im Weiteren plausibel. Daß an anderen Orten die Genchirurgie - gestützt ebenfalls auf die neuesten Rechnertechnologien - sich anschickt, die natürliche Natur direkt fortzusetzen, sei nur am Rande und zum Abschluß dieser kleinen Skizze angemerkt. Hier mag die bereits real existierende sogenannte Pomoffel noch als Fälschung sowohl der Kartoffel wie der Tomate angesehen werden, als Kartoffeltomatensimulant sozusagen. Sie soll auch nicht besonders schmecken und unterstützt insofern traditionelle Auffassungen. Tatsächlich ist es eine neue Bildung, Hybridbildung eben, und ihre Evolution ist damit keineswegs am Ende. Wie bereits hier die neue Frucht nicht einfach als Summe der beiden Vorgängerinnen wahrgenommen und gegessen werden kann, wird es Dinge geben - seien es nun Früchte aus holländischen Genfabriken, Fliegen aus japanischen Animationsschmieden oder das endliche Erscheinen Godots im Cyberspace - die an keinerlei Vorbilder mehr erinnern. Ob das nun als Verlust der Erinnerung oder als neue Erfahrung, als erschreckende Leere oder begeisternde Fülle erlebt wird, bleibt eine Frage der Perspektive, des individuellen und sozialen, politischen, auch moralischen Blicks auf die neuen Technologien und ihre Produkte. Es bleibt auch hier eine Frage ihrer Verwendung, des Handelns in und mit dieser Welt: die einfachsten, aber schmerzlichsten Nöte sind auch mit der kompliziertesten Technik noch nicht zum Verschwinden gebracht. In der "Welt am Draht" Galouyes oder Faßbinders springt Stiller, als ihn die Abbrüche, die plötzlich aufhörenden Straßen wie die gelöschten Freundschaften zu stören, die Begrenzungen seiner Welt zu schmerzen beginnen, auf die nächste, die "höhere" Ebene. Wir, die Leser des Buchs oder Zuschauer des Films, wissen, daß er im Draht geblieben ist, nur in die nächste Um- oder Ver-Wicklung geraten. Daß er bei uns angelangt ist.

(1) Galouye, Daniel F.: Simulacron-3.New York 1964. zuerst unter dem Titel: Counterfeit World. London 1964. dt. "Welt am Draht". München 1965. Ob Galouye den Helden seiner "gefälschten Welt" in bewußter Anspielung auf M.Frischs von Identitätszweifeln geplagte Figur Stiller genannt hat, ist nicht sicher, wäre aber möglich. Frischs Roman erschien erstmals 1954. [ev. Abb. aus F.s Film]

(2) s. Lypp, Bernhard: Ästhetischer Absolutismus und politische Vernunft. Frankfurt/M. 1972

(3) Baudrillard, Jean: Echange symbolique et la mort. Paris 1976. Der symbolische Tausch und der Tod. dt. G.Bergfleth, G.Ricke, R.Vouillé. München 1982

(4) ein weiterer Titel v. 1982. s. auch Baudrillard, J.: L' illusion de la fin ou La grève des événements. Paris 1992. Die Illusion des Endes. dt. R.Voullé. Berlin 1994

(5) s. Amelunxen, Hubertus v./Ujica, Andrei (Hg.): Television/Revolution. Das Ultimatum des Bildes. Marburg/L. 1990, bes. S.15-20. [ev. Abb. S.18]

(6) Grassmuck, Volker: Die Turing-Galaxis. Das Universal-Medium auf dem Weg zur Weltsimulation. in: Lettre international 28. S. 53

(7) s. etwa Bormann, Sven: Virtuelle Realität. Genese und Evaluation. Bonn 1994

(8) FAZ v. 6.August 1996, S.T1 [ev. Abb. d. Sim.-Fotos auf dieser Seite, copyright Krauss-Maffei]

(9) s. Großmann, Rolf: 'Hybride Systeme' in der Musikproduktion - technische Anfänge und ästhetische Konsequenzen.( in: Schneider, Irmela/Thomsen, Christian (Hg.): Hybrid-Kultur, Köln 1997, S.?)

(10) Kittler, Friedrich: Wenn das Bit Fleisch wird. in: Klepper, Martin u.a.(Hg.): Hyperkultur. Zur Fiktion des Computerzeitalters. Berlin, N.Y. 1996, S.150f.

 


© Peter Gendolla
Fri Apr 16 14:34:48 MEST 1999
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