Fachbereich 3

Ein Roman wie ein Kartenspiel

Ein Sammelband zur Rolle des Zufalls in der Kunst

Von Sascha Michels

©Frankfurter Rundschau, 30.11.1999

Kultur ist in den Worten Stanislaw Lems "eine zufallsfeindliche Einrichtung": Innerhalb ihrer Ordnungen und Konstruktionen herrschen formales Kalkül und innere Notwendigkeit. Kultur lässt sich geradezu definieren als systematische Eliminierung des Zufälligen im Zuge des eigenen Totalitätsanspruchs. Wenn vom Zufall die Rede ist, so allenfalls im Sinne eines symbolischen Platzhalters für das noch nicht Erklärbare. Lems These ist nur die halbe Wahrheit. Denn der Zufall ist Feind und Faszinosum zugleich. Gerade weil er in der europäischen Kulturgeschichte immer wieder ausgegrenzt und wegrationalisiert wurde, ist er vor allem im 20. Jahrhundert umso emphatischer aufgewertet worden.

Inwiefern der Zufall regelrecht "ins Herz der ästhetischen Produktionen" eingewandert ist, behandelt der von Peter Gendolla und Thomas Kamphusmann herausgegebene Sammelband mit dem schönen Titel Die Künste des Zufalls. Zufall, so die Grundthese des Buches, wird in den verschiedenen Künsten dieses Jahrhunderts vom bloßen Motiv und Objekt der Darstellung zum Produktionsprinzip und Verfahren. Kunst wird zum Zufallsprodukt. Wobei das Paradox darin besteht, dass dieses Zufallsprodukt in seiner Unvorhersehbarkeit bewusst und planmäßig erzeugt werden soll. Im Gegensatz zum "normalen" Zufall, der einfach passiert, ist der ästhetische Zufall gewollt. Mit Max Kommerell könnte man vom immer schon "bestochenen Zufall" in der Kunst sprechen. Gleich mehrere Aufsätze des stimmigen und facettenreichen Bandes beschäftigen sich mit dem Werk John Cages: angefangen vom berühmten 4'33", bei dessen Aufführung der Pianist lediglich vor jedem Satz die Tastaturabdeckung schließt und so die zufälligen Umweltgeräusche des Konzertsaals hörbar macht, bis hin zu Roaratorio, einer akustischen Umsetzung von James Joyces Finnegans Wake, die eine aleatorische Zitat-Montage mit diversen, im Roman erwähnten Umweltgeräuschen und der Musik einer irischen Folkband kombiniert.

Das Interesse an einer "nichtintentionalen Werkgenese", von der Holger Schulze spricht, verbindet John Cage mit den Dadaisten: Autoren wie Hans Arp oder Tristan Tzara verabschieden das Originalgenie, indem sie etwa ihre Texte aus zufällig ausgewählten Zeitungsausschnitten montieren. Auch in der von Karl Riha inspizierten modernen Literatur gibt es Versuche, den Text als offenes Kunstwerk überhaupt erst beim Lesen entstehen zu lassen: sei es, dass der Leser die unpaginierten Blätter des Romans wie ein Kartenspiel mischt; sei es, dass er sich aus hunderttausend Milliarden Möglichkeiten ein beliebiges Sonett zusammensetzen kann.

Ausflüge in frühere Jahrhunderte bietet der Band hingegen kaum, und natürlich können auch auf das 20. Jahrhundert nur Schlaglichter geworfen werden. Die Bedeutung von Marcel Duchamps Ready-mades etwa wird zwar immer wieder betont, nicht aber expliziert. Auch einen Aufsatz über Fotografie würde man sich wünschen, ausgehend beispielsweise von Roland Barthes' Begriff des punctum, des scheinbar zufälligen Details.

Umso lobenswerter ist es, dass der Neugewichtung des Zufalls in den Naturwissenschaften des 20. Jahrhunderts Rechnung getragen wird. Denn der Zufall macht nicht nur Kunst, er hat möglicherweise, wie der Aufsatz von Claus Grupen eindringlich zeigt, auch die Welt gemacht: zum einen durch die creatio ex nihilo einer zufälligen Quantenfluktuation, zum anderen auf Grund der kontingenten Konstellation zwischen Erde und Sonne, die bei zunehmender Entropie im Universum eine Nische der Ordnung gebildet hat. Zwar ist der Gedanke nicht neu, dass sich die Welt dem Zufall verdanken könnte. Neu ist aber, dass diese Hypothese, vor der selbst Einstein mit seinem Satz "Gott würfelt nicht" noch zurückschreckte, völlig selbstverständlich geworden ist - so selbstverständlich wie die längst historisch gewordenen Künste des Zufalls.

Peter Gendolla / Thomas Kamphusmann (Hrsg.): Die Künste des Zufalls. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1999, 301 Seiten, 22,80 DM.

choose your language